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Kirche in WDR 3 | 08.04.2019 | 07:50 Uhr
Dünnhäutig
Guten Morgen.
Bei Männern im mittleren Alter ist es ja noch nicht so schlimm, aber so langsam, so peu à peu komme ich dahin – ich werde immer dünnhäutiger. Nicht dass ich mich gleich aufrege, wenn jemand Blödsinn erzählt, oder wenn eine politische Meinung herausposaunt wird, mit der ich gar nichts anfangen kann. Nein - an solchen Stellen bin ich ziemlich gelassen geworden – da rege ich mich nicht mehr so schnell auf, wie das noch vor ein paar Jahren der Fall war.
Aber wenn mich persönlich etwas umtreibt und richtig anfasst, ganz
gleich ob freudig oder traurig, dann bin ich dünnhäutiger geworden. Wenn ich
zum Beispiel von einem neuen Bild meiner Enkelin auf meinem Smartphone morgens begrüßt werde, dann rührt mich das. Sie wohnt
über 1000 Kilometer weit weg von uns. Oder wenn ich daran denke, wer von meinen
nächsten Verwandten oder aus meinem unmittelbaren Bekanntenkreis in der letzten
Zeit schon alles das Zeitliche gesegnet hat… dann kämpfe ich mit dem Wasser in
meinen Augen, muss zusehen, wie der Kloß im Hals verschwindet, damit ich wieder
vernünftig reden kann. Und dann gibt es Geschichten von Leuten, die ich
überhaupt nicht kenne und deren Schicksal oder Lebensweg mich bislang noch gar
nicht berührt hat. Plötzlich höre oder lese ich von ihnen oder treffe sie – und
sie stellen mich mit ihrer Geschichte persönlich in Frage. Solche Geschichten
können mich regelrecht umhauen. Bei der Geschichte von der jungen schwedischen
Schülerin Greta Thunberg ergeht mir das so. Mit ihren 16 Jahren hat sie schon
mehr Menschen erreicht und bewegt, als ich in meinem ganzen Pfarrerleben jemals
erreichen und bewegen kann. Sie hat über die Zukunft ihrer Generation
angesichts des Klimawandels beim Klima-Gipfel im polnischen Kattowitz
gesprochen und bei der letzten Weltwirtschaftskonferenz in Davos. Und sie hat
die Schülerstreiks begonnen, die inzwischen an verschiedenen Orten in Europa
freitags abgehalten werden. Überall hat sie ihre Botschaft auf eine
unspektakuläre, ehrliche und deswegen eindringliche Weise vorgebracht. Völlig
ungerührt hat sie den Wirtschaftsführern der Welt in Davos gesagt:
Sprecherin: Manche Leute sagen, wir hätten die Klimakrise gemeinsam verursacht. Doch das ist nur eine bequeme Lüge. … Einige Leute, einige Unternehmen, vor allem einige Entscheidungsträger wussten genau, welchen unbezahlbaren Wert sie opfern, um weiterhin unglaublich Mengen Geld zu verdienen. – Ich glaube, einige von Ihnen gehören zu dieser Gruppe. (1)
Der letzte Satz von Greta Thunberg wird vom Veranstalter aus der
offiziellen Twittermeldung herausgeschnitten. Er hat wohl Schiss bekommen bei
so viel Ehrlichkeit – Greta Thunberg nicht.
Was mich aber an diesem Statement so umhaut, mir unter die Haut kriecht
ist die Vermutung, dass eine alte biblische Vision wahr werden könnte:
Die Alten werden Träume haben. (Joel 3,1) Ja, Greta Thunberg hat mir den
Traum geschenkt, dass die Stimme der kleinen Leute gehört wird und sie noch etwas bewegen werden.
Diesen Traum, diese Hoffnung wünscht auch Ihnen,
Ihr Eberhard Helling, Pfarrer aus Lübbecke.
(1) aus: Die Zeit, Nr. 6, 2019, S. 53