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katholisch
Kirche in WDR 2 | 12.05.2021 | 05:55 Uhr
Aushalten
Letzte
Woche hat sich überraschend eine Rentnerin bei mir gemeldet, sie ist mit Ende
60 aus der Kirche ausgetreten. Wütend, verzweifelt. Und weil ich für das Bistum
Essen zu dem Thema mal eine Studie mitherausgegeben habe, hat sie meine Nummer
rausgesucht. Während des Telefonats wird mir klar: Sie kann das niemandem vor
Ort erzählen. Der Pfarrer hört nicht zu oder hat nur vorgefertigte Antworten.
Und sie hat sich nicht anders zu helfen gewusst, als auszutreten. Am Telefon
weint sie. Sie gehört in die katholische Kirche, es ist ihre Heimat. Und
trotzdem steht sie zu diesem Schritt. Weil sie so wütend ist, über alles, was
schief läuft: Missbrauch, Vertuschung, Traditionalismus. Wir
sprechen nicht lange miteinander bei diesem Telefonat. Trotzdem begleitet sie
mich seitdem. Denn ich habe bei dem Gespräch gemerkt, was mir in der Kirche oft
fehlt: Das Aushalten. Es ist extrem schwer, nicht sofort mit Tipps und Lösungen
um die Ecke zu kommen, wenn jemand eine schwere Geschichte hat. So
ist das auch bei einem Hörer, der sich seit einigen Jahren bei mir meldet. Auch
er ist schon älter, ein IT-Fan, aber ein sehr trauriger. Er kommt nicht über
den Tod seiner Mutter hinweg und darüber reden wir manchmal. Per Mail oder per
Telefon. Und oft ist dann auch lange Pause. Ich versuche mit ihm auszuhalten,
was sich für ihn unaushaltbar anfühlt. Oft fühle ich mich dabei ziemlich
schwach. Ein
anderer, jüngerer Hörer, meldet sich regelmäßig über facebook. Er ist schon
lange aus der Kirche ausgetreten, aber er hat viele Fragen und manchmal will er
auch einfach nur ein bisschen erzählen. Inzwischen duzen wir uns. Diese
und viele weitere Begegnungen haben mich in den letzten Jahren sehr geprägt. Ich
habe mich oft gefragt, warum sich die Leute gerade bei mir melden. Ich
habe nie gelernt, wie professionelle Seelsorge funktioniert. Obwohl für die
Kirche arbeite, bin nicht als Seelsorgerin ausgebildet. Was
ich aber von Herzen glaube, ist das hier: Wenn sich Menschen bei mir als
Kirchenvertreterin melden, dann erwarten sie Seelsorge. Also sorge ich, so gut
ich kann, für ihre Seele. Meistens ist dabei das Wenige das Schwerste: wenig
Ratschläge, wenig Lösungsideen. Stattdessen: zuhören, aushalten, ernstnehmen.
Und am Ende wünsche ich den Menschen Segen, per Mail, per Telefon und später still im Gebet.